3. Buch: Die soziale Ebene -> 11. Kapitel: Psychiatrie -> 80. Folge: Stationsleben
Deutungsebene ausblendenStationsleben

Und dann passierte immer wieder etwas. Als sie einmal in
ihr Zimmer kam, überraschte sie Franz dabei, wie er
sich an ihrem Kleiderspind zu schaffen machte. Er stotterte
etwas und ging sofort hinaus, als Barbara ihn
überraschte. Sie erzählte es Sylvia.
Der
klaut. Er war auch schon mal im Gefängnis, sagte sie.
Zwei Stunden später wussten es alle. Noch einmal
zwei Stunden später gab es Ärger. Nie hatte
Barbara das Personal so unwirsch erlebt wie in diesem Fall.
Man hörte, dass ein Portemonnaie aus dem Personalzimmer
verschwunden war, das Portemonnaie einer Krankenschwester.
Es fand sich im Nachttisch von Franz, aber ohne dass etwas
heraus genommen worden wäre. Er behauptete, dass es
jemand dort hingelegt habe, um ihn beim Personal
anzuschwärzen. Noch am gleichen Tag wurde er entlassen.
Diese Klinik würde ihn nicht wieder aufnehmen. Das war
schlimm für ihn; denn er würde noch am gleichen
Tag rückfällig werden. Die Behauptung von Franz,
dass ihm übelwollende Patienten das Portemonnaie in
seinen Nachttisch gelegt hätten, wurde ihm als
lächerliche Schutzbehauptung nicht abgenommen.
Einige Tage später kam noch einmal die Rede
darauf. Einige der Patienten empörten sich beim
Mittagessen, dass sich Franz an die Sachen des Personals
gemacht hatte. Mit am Mittagstisch saß Frau
Liebold, eine kluge Krankenschwester, die schon viele Jahre
in der Psychiatrie arbeitete.
”Es war Ihnen ganz
recht, dass er verschwunden ist”, sagte sie und
fügte dann nachdenklich und bestimmt hinzu: ”Wir
sollten nicht weiter darüber reden.”
Und dann die Therapien. Wie das organisiert war, durchschaute Barbara nicht. Aber im großen und ganzen war es angenehm. Mit dem Arzt reden, das machte Sinn, Sport war auch gut. Die Gruppenveranstaltungen machten ihr sogar Spaß. Sie sagte zwar so gut wie nie etwas, aber die anderen Patienten konnten sich ziemlich erhitzen. Sie war fasziniert zu beobachten, wie die Menschen miteinander stritten: Manchmal kam etwas Gutes dabei heraus, manchmal schien es vergebens und manchmal machte es den Eindruck einer zerstörerischen Unternehmung. Es gab auch Beschäftigungstherapien, zwei Mal die Woche. ”Bastelstunde”, nannten es die Patienten verächtlich. Manches war auch komisch, z. B. die ”Kochtherapie”.
Was dieses Stationsleben, dem sie sich nun anzupassen hatte, mit ihren Problemen zu tun hatte, wusste Barbara nicht. Barbara war nicht aus eigenem Antrieb in die Klinik gekommen. Man hatte sie nicht gefragt. Sie hatte sich sehr ungewöhnlich benommen und ihre Familie erschreckt, weil sie weggegangen war, einen Abschiedsbrief hinterlassen hatte und am Gelände einer Brücke herum geturnt hatte. Für ihre Lebensumstände interessierte sich keiner vom Personal. Man war daran interessiert, ob sie Fressanfälle hatte, sich schnitt, hungerte oder andere Symptome hatte. Barbara hatte zwar davon erzählt, war aber bislang auf der Station ganz ohne Symptome geblieben. Das Personal schien enttäuscht. Immer wieder war von ihrer Depression die Rede. Das verstand sie nicht. Hier fühlte sie sich weniger niedergeschlagen als zu Hause.
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