3. Buch: Die soziale Ebene -> 11. Kapitel: Psychiatrie -> 85. Folge: Entlassung
Deutungsebene ausblendenEntlassung

Das bevorstehende Entlassungsgespräch mit dem Oberarzt ließ die anfängliche Hoffnung der Eltern, mit der Klinikaufnahme werde sich nun alles zum besseren wenden, wieder aufleben. Möglicherweise würde der Oberarzt wichtige Aufschlüsse geben, die es den Eltern leichter machen würden. Barbara war krank, hatten sie gelernt, und das hatte sie zunächst erleichtert; denn Krankheiten erzeugen die Hoffnung, dass man sie auch heilen kann.
Dr. Hoffmann bekräftigte zunächst noch einmal
die Diagnose: Borderlinestörung.
Diese
Störung ist durch ihre Symptome definiert. Die
Patienten können nur schwer allein sein und sie neigen
zu schädlichen Impulshandlungen, die keinen bestimmten
Zweck haben. Dazu gehören Fressanfälle, hungern,
sich schneiden, Alkoholexzesse, Klauen oder ähnliches.
Es ist für diese Menschen auch schwer, Gefühle zu
empfinden, also zum Beispiel Ärger oder Freude.
Darum basieren viele therapeutischen Maßnahmen darauf,
mit den Patienten zu üben, ihre Gefühle wahr zu
nehmen. Bei Ihrer Tochter ist es insofern anders, als
zusätzlich eine Depression besteht und
Zwangsstörungen. Wir haben darum auch erst die
Depression behandelt, und zwar mit Medikamenten, die auch
gegen die Zwangssymptome wirksam sind.
Woher kommt
diese Störung? das wollten die Eltern vor allem wissen.
Aber diese Frage brachte den Oberarzt etwas in Verlegenheit.
Wir wissen es nicht genau, sagte er.
Vielleicht
spielen Erbfaktoren eine Rolle. Von der Depression wissen
wir ziemlich genau, dass sie meistens durch Erbfaktoren
bedingt ist.
Man wolle versuchen, die Verhaltensweisen und bestimmte kognitive Einstellung von Barbara zu verändern, erläuterte der Oberarzt des weiteren. Ein Selbstsicherheitstraining, das Erlernen größerer sozialer Kompetenzen wäre sicher auch nützlich. Das leuchtete den Eltern ein.
Die Vorstellung, dass Barbara an einer Krankheit litt, hat noch einen verführerischen Aspekt. Wenn es nur eine Krankheit ist, dann betrifft die Behandlung ausschließlich Barbara. Die Eltern können bleiben, wie sie sind.
Schließlich empfahl Dr. Hoffmann den Eltern die Teilnahme an einer Familienberatung, wie sie an der Klinik seit längerem durchgeführt wurde. Dort würden sie Hilfe bekommen, um sich auf die Krankheit von Barbara einstellen zu können
Die Eltern Rein nahmen an einem dieser Informationsabende teil. Es waren viele Angehörige von psychisch Kranken, meist mit den Patienten, gekommen. Viele kannten sich, was man an der Art der Begrüßung merken konnte. Die Oberärztin der Klinik, assistiert von einer jungen Psychologin, leitete das Gespräch. Es war nützlich für die Eltern Rein. Es bekräftigte ihre neue Überzeugung, dass Barbara krank sei. Das war entlastend. Aber dann gingen sie nicht mehr hin.
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