3. Buch: Die soziale Ebene -> 13. Kapitel: Gibt es eine Lösung für die Schizophrenie? -> 89. Folge: Was ist eine psychische Krankheit?
Deutungsebene ausblendenWas ist eine psychische Krankheit?

Als Barbara entlassen wurde, ging es ihr kein bisschen besser als früher. Sie bekam eine Menge an Medikamenten, die sie beruhigten. Aber gerade dieses Gefühl mochte sie nicht. Und die Symptome, vor allem die Ängste, die Speiserituale und die bulimischen Anfälle, hatten sich nicht oder nur unwesentlich gebessert. Aber das war kein Grund für Barbara, enttäuscht zu sein. Sie hatte in der Klinik sowieso sehr schnell die Überzeugung gewonnen, dass es dort um etwas ganz anderes ging, als gesund zu werden.
Psychiatrische Kliniken haben unter anderem die Aufgabe, abnormes Verhalten als krank zu etikettieren.
Barbara hatte andererseits durchaus registriert, dass viele der Patienten auf ihrer Station im Verlauf ihres Aufenthaltes eine deutliche Besserung aufwiesen. Die Alkoholiker wurden nüchtern und fingen an sich mit den Realitäten zu beschäftigen, die Depressiven wurden besser gelaunt, die Schizophrenen hatten weniger Halluzinationen. Und dabei halfen bei einigen der Patienten auch ganz unübersehbar die Medikamente. Aber bei ihr war es eben anderes und sie war auch kein Einzelfall.
Zu ihren Eltern entlassen, hörte Barbara am ersten Tag schon damit auf, weiter Medikamente zu nehmen. Dadurch wurde sie wenigstens die Nebenwirkungen los. Die Familie unterstützte Barbara darin. Später änderte sich ihre Haltung dazu, hatte sie das Gefühl, die Medikamente zu brauchen. Aber zu der Zeit hatte sie auch andere, nämlich psychotische Symptome.
Trotzdem hatte sich etwas durch den Klinikaufenthalt geändert. Barbara war nicht mehr nur Barbara, sie war nun krank. Und diese Krankheit definierte sie. Das war mehr als ein beiläufiges Attribut. Es hieß, dass sich Barbara anders benehmen konnte als die Menschen sonst, konnte Dinge tun, die unverständlich und unsinnig waren. Ja, man erwartete das von ihr; denn die Krankheit, an der Barbara litt, musste sich auch irgendwie äußern.
Alle waren entlastet, vor allem Barbara selbst. Sie
konnte nun ihre Symptome als richtige Zeichen von Krankheit
ansehen. Wie bei allen chronischen Krankheiten waren sie mal
stärker, mal schwächer. Sie beobachtete sich unter
diesen Gesichtspunkten und konnte mit der Mutter
darüber sprechen.
Heute ist es wieder besonders
stark, sagte sie zur Mutter und meinte ihren Zwang, das
Gegessene aufzuschreiben. Die Mutter nickte, seufzte und
dachte:
Das arme Kind
Die Frage aber, wie die Krankheit entstanden war, beantwortete die Mutter mit der These, dass ihr Mann diese Krankheit in die Familie gebracht hatte. Hatten nicht auch die Ärzte im Krankenhaus gesagt, dass die Krankheit vererbt worden ist? Herr Rein wehrte sich gegen diese Zuschreibung, aber unbewusst hat er sie doch akzeptiert. Barbara selbst stellte sich diese Frage nicht. Sie registrierte, wie sehr sie aus dem normalen Leben ausgeschlossen war. Sie hatte keine andere Zukunft als die Wiederholung der immer gleichen Zwänge. Morgen und Übermorgen und nächste Woche und nächstes Jahr würde sie sich schneiden und überfressen und kotzen. Das war klar. Neu war, dass nun auch nichts anderes mehr von ihr erwartet wurde.
Und doch, noch einmal versuchte sie sich dagegen
aufzulehnen. Barbara machte einen zweiten Versuch einer
Psychotherapie. Diesmal geriet sie an eine Therapeutin, die
Psychoanalytikerin war und die sich nicht so leicht
einspannen ließ. Barbara erzählte von ihren
Bemühungen, sich an den selbstgemachten Speiseplan zu
halten, von ihren Ängsten, die scheinbar unvermittelt
irgendwann kamen, von ihren Selbstverletzungen. Von der
Mutter erzählte sie diesmal mehr nebenbei.
Meine
Mutter wollte, dass ich zu dem Essen mit meiner Oma mitgehe,
aber ich konnte nicht.
Meine Mutter hat gesagt, ich
solle mich um einen Praktikumsplatz bemühen. Es gab da
eine Anzeige in der Zeitung. Für die Vorbereitung zur
Ausbildung als Krankenschwester. Aber ich habe das nicht
gemacht.
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