3. Buch: Die soziale Ebene -> 14. Kapitel: Das erste Ende der Geschichte -> 99. Folge: Ein Brief
Deutungsebene ausblendenEin Brief

Die Treffen mit Barbara fanden nun noch seltener statt. Einige Male lag fast ein halbes Jahr dazwischen.
Schließlich bekam er auch Barbaras schweren Rückfall mit. Sie erschien eines Tages nicht zum vereinbarten Termin. Das war nicht das erste Mal. Ein Anruf bei ihr machte ihm klar, in welcher Verfassung sie war. Als er erneut versuchte, Barbara anzurufen, konnte er sie nicht erreichen. Von der Mutter erfuhr er, dass sie in der Klinik war. Nach ihrer Entlassung, die erst nach vielen Monaten erfolgte, erfuhr er, dass es Barbara sehr schlecht ging. Er wollte sie wieder anrufen, schob das aber vor sich her. Er sah sie nicht wieder. Eines Tages bekam er die Todesanzeige von der Familie Rein. Von der Mutter, die er zu einem Kondolenzbesuch aufsuchte, erfuhr er die Geschichte.
Barbara ist es die ganzen letzten zweieinhalb Jahre
schlecht gegangen. Erst vor einigen Monate hat sie sich
erholt. Wir haben alle aufgeatmet. Der Schub war diesmal
schlimmer als alles, was wir kannten. Nichts hat geholfen.
Sie war monatelang in der Klinik. Man konnte sie
überhaupt nicht mehr verstehen. Sie redete nur wirres
Zeug. Am Anfang ging es noch. Aber dann ist es in der Klinik
immer schlimmer geworden. Ich habe sie ja fast täglich
besucht und habe alles genau mitbekommen. Ich bin selbst
krank darüber geworden. Dann ist sie auch aggressiv
geworden.
Hier brach die Mutter in Tränen aus und
konnte lange nicht weiter sprechen.
Sie hat mich
... , aber wieder hinderten die Tränen sie.
Sie
hat mich geohrfeigt, ein paar Mal. Sie wurde darum ans Bett
gefesselt. Da hat sie mich angespuckt. Die Mutter weinte
lange und Robert sagte nichts.
In solchen schweren psychotischen Zuständen stehen die psychischen Funktionen nicht in ihrer reifen Form zur Verfügung, also Denken, Kontrolle der Gefühle, Kontrolle von Handlungsimpulsen etc. Es ist ein Zustand ähnlich wie beim kleinen Kind, das ja alles dieses noch lernen muss. Vielleicht wird es eines Tages gelingen, den Patienten zu helfen, ihre psychischen Fähigkeiten neu und stabiler als vorher wieder aufzubauen.
In der Klinik habe ich mich ja zusammen
genommen, wenn ich neben ihrem Bett saß. Aber auf dem
Weg nach Hause habe ich immer weinen müssen. Die
Pfleger und Schwestern waren nett zu mir. Sie haben
versucht, mich zu trösten.
Und dann bekam ich
später diesen Brief, von einem Rene Steinmann. Frau
Rein ging hinaus und kam nach einer kurzen Weile
zurück. Sie reichte Robert ein Papier.
Verrückt. Wir wissen auch nicht, wer dieser Mann
ist.
Auch das ist ein (von mir leicht verändertes) Schreiben eines meiner schizophrenen Patienten, der aber anonym bleiben wollte. Der Brief wurde aus einem ähnlichen Anlass geschrieben, wie in der Geschichte. Der Mann verlor sein Kind.
Robert las:
Sehr geehrte Frau
Mutter Rein,
meine Freundin ist wohl letztendlich daran
zerbrochen, es war der Fall, dass sie geschlagen hat.
Für die anderen wars aus meiner Betrachtung viel
weniger schlimm.
Ich bins, ders hört und an Sie
weiter gibt. Denn wir alle sind geschlagen worden und haben
geschlagen.
All die Kinder, die ihre Schrecken leben konnten, loslaufen konnten, weil sie vom Leben wissen, all die die glauben, Geheimnisse teilen, zusammen leben, Einsichten haben und damit arbeiten können, all die sich das Leben erobern konnten, sie sind zu beneiden aus tiefster Seele. Ich liebte sie alle. Ich liebte sie dafür. Es trennte mich etwas vom Leben und den Menschen. Ich war gebrochen, nur zu sehen, keine Sprache, kein Augenblick nur manchmal hörte ein Schmerz auf, den ich sonst nicht wahrnahm. Ich hatte mich in meiner Kindheit selbst verabredet. Die Fortsetzung meines Lebens war nichts mehr wert für mich.
Ich, glauben Sie mir, habe kein Interesse mich als Rene Steinmann zu entwickeln. Warum. Ich kenne den Abort, den Beton, die Verdorbenheit, die verstellten, verstellten messerschneidenden kopfhängenden Realitäten meines bisherigen Lebens, das ich 39 Jahre auf einer treibenden Scholle verbrachte, kein Sinn nur das Wissen einer gottlosen Kranken total kranken Welt, deren Natur ein Bann und Fluch ist. Nur meine Mutter muss es zu genau genommen haben, vielleicht aufgrund ihrer unerfüllten Wünsche ihrer einsamen Ideologie. Das ist schon wieder alles ein Märchen. Das helle unaufhörliche Denken, an dem man letztendlich zu Tode bricht, ist durch einen tiefen vorgeburtlichen Vertrauensverlust in seine nächste Umgebung entstanden. Bin jetzt zu alt ein Schadensfall, der ich bin, den man aus einem „Verbundsystem“ heraushalten wollte.
Es ist ein anderer Tag heute.
Die Frau brauchte wirklich intensive Behandlung, Zuwendung, Arbeit. Wer kann das schon! Vermutet werden kann, dass der Faden der Frau zum Zerreißen gespannt war und in Müdigkeit und Schlaf überging.
Schon in der Schwangerschaft ist vieles im Argen.
Ich denke, eine verbrauchte Seele wird voll eine andere haben wollen.
Ein Baby im Mutterleib kann stark bis völlig
gegeißelt sein (werden). „Irrsinn ist
programmiert.“ Das Baby hat nur noch die Chance, sich
zu wehren mit heftigem Strampeln, Treten. Beide finden das
Leid, sind gebrochen und erleben den Bruch zum
nächsten. Man könnte hier ansetzen zu sehen und
helfend beizustehen.
Ich will nicht zu sehr
psychologisieren. Eher was an Krankem erfahren wird,
aufzeigen.
Geschichte und Kranksein der Eltern erst mal
auf ein Nebengleis gestellt.
Viele Menschen dieser Welt sind von Geburt so defekt
und in einer Weise ins Leben gerufen, dass es braucht, dass
es zum wirklichen Leben dämmert. Es tritt
Verstörung ein und nicht ganz wissen wie und wohin.
Das „Bekloppte“ an dem
„Beklopptsein“ der Kinder ist nicht eben dies,
sondern das kümmerliche, verdorbene Verhalten der
Eltern.
Es ist kaum zu beschreiben und schlimmer. Man sollte
denken, dass der schizophrene Himmel, der
schizoiden-paranoiden zwanghaft Lebenden den (Un-) Menschen
eine Schande ist.
Tatsächlich erscheint es gottlos
(ist er gottlos?) Dies ist immer die Folge von seelischen
Brüchen, eine Welt ohne Türen, die keinen Zugang
fand. Allein in Angst fortgeschickt und sich selbst
überlassen.
Diese Anmerkung ist kaum von Wert, denn eine Welt, die
keinen Glauben schöpfen kann aus Leben, kann nicht
leben.
Es tritt ein anderer Fall ein helles Wachen in
seelischer Dunkelheit sowie Schlaf.
Es wird nichts
gesagt, nichts bewegt.
Kommen wir wieder zum Liebesleid. Jeder ist in der Lage zu erkennen, was es zu erkennen gibt. Zum Beispiel Verlachen des Ernstes der Kinder. Ich sag nicht, dass Eltern mustergültig sein müssen (kann gar nicht sein).
Rene Steinmann
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