2. Buch: Die familiäre Ebene -> 10. Kapitel: Späte Liebe -> 70. Folge: Schlaganfall
Deutungsebene ausblendenSchlaganfall

Lothar Rein hatte die Gewohnheit angenommen, sich täglich die Zeitung von einem Kiosk zu holen, der etwas weiter entfernt war. So verschaffte er sich Bewegung und gab dem Tag Struktur. Es war eine überregionale Zeitung, an der er lange lesen konnte, auch nachdem er zum Frühstück schon die lokale Zeitung durchgeblättert hatte. Wenn man nichts zu tun hat, dann tut man die Dinge im Gleichmaß. Es ist der Mangel an Zeit, der zu Improvisation verführt. Lothar Rein stand um halb acht auf. Um halb neun war er mit dem Frühstück fertig. Um 9 ging er aus dem Haus, die Zeitung zu holen, bei jedem Wetter, von Montag bis Samstag. Er las in der Zeitung bis halb eins. Dann stellte seine Frau das Essen auf den Tisch.
Eines Tages, es war ein nebeliger Tag im Oktober, kam
Lothar Rein mit der Zeitung zurück und hatte
Schwierigkeiten beim Sprechen.
Es ist, ... ist ...
grau. Nein, ist ...
Lothar Rein setzte sich, noch im
Mantel, auf einen Stuhl in der Küche. Sein Gesicht war
blass, fast grau. Ursula Rein begriff sofort, dass es ernst
war. Sie rief den Arzt. Da sich Lothar Rein schnell erholte,
blieb er zu Hause. Nach wenigen Stunden waren die Symptome
wieder verschwunden. Das Ganze wiederholte sich nach ein
paar Wochen. Und eines Morgens wachte Lothar Rein auf und
konnte den rechten Arm nicht bewegen. Der rechte Mundwinkel
fiel herunter. Lothar Rein hatte Schwierigkeiten beim Essen
und Trinken, die Speisen liefen ihm auf der gelähmten
Seite teilweise wieder heraus. Ein Schlaganfall war es, die
Sprechschwierigkeiten waren die Vorboten gewesen. Lothar
Rein kam ins Krankenhaus. Dann gab es eine intensive
Rehabilitation. Aber den Arm hielt er noch immer angewinkelt
und der Mund blieb schief. Er brauchte jetzt einen Stock,
wenn er außer Haus ging.
Die Zunahme der Arbeit, die durch die Krankheit ihres Mannes bedingt war, akzeptierte Ursula Rein ohne Klagen. Auch in ihrem Inneren machte sie ihm keine Vorwürfe für das, was ihr durch ihn zugemutet wurde. Es war merkwürdig. In ihrem Herzen machte sich sogar so etwas wie Versöhnung breit. Es war ein schüchterner Versuch der alten Frau, ihren Mann endlich doch zu lieben. Vielleicht war es das. Ursula Rein konnte nun alles für ihn tun.
War es nicht immer ihr Trachten gewesen, dass die Menschen ihrer Umgebung durch sie lebten, gut lebten? Mehr hatte sie doch nie gewollt, nicht bei ihrem Mann und nicht bei Barbara! Wenn sie sich aufopferte, fühlte sie in der Erschöpfung, dass sie doch etwas Gutes in sich hatte. Dafür waren die Menschen um sie herum Zeugen. Barbaras Schuld war, dass sie ihrer Mutter dieses Zeugnis verweigert hatte. Sie wollte die Milch ihrer Mutter nicht. Vergiftet sei sie gewesen, die Milch, hatte ihre Tochter behauptet.
Es war ein Tag im Vorfrühling, keine drei Jahre nach dem ersten Anfall, als ihn seine Frau am Morgen tot in seinem Schlafzimmer fand. Er lag auf dem Boden, etwa zwei Meter vom Bett entfernt. Die Muskelstarre war bereits eingetreten, also musste der Tod schon früh in der Nacht gekommen sein. Lothar Rein hatte sich beim Fallen verletzt, er hatte Blut verloren, woraus man schließen konnte, dass er nach dem Sturz noch eine halbe oder ganze Stunde gelebt hatte. Die kleine Nachttischlampe brannte. Frau Rein war an dem Abend weg gewesen und gegen 23 Uhr nach Hause gekommen. Da sie im Zimmer ihres Mannes kein Licht sah, war sie davon ausgegangen, dass er bereits schlief. Lothar Rein hatte also danach noch einmal das Licht angeknipst und das Bett verlassen. Der Sturz musste durch einen erneuten Schlaganfall verursacht worden sein.
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