2. Buch: Die familiäre Ebene -> 6. Kapitel: Wechselseitige Erwartungen -> 48. Folge: Hochzeit
Deutungsebene ausblendenHochzeit

Lothar Rein warb lange Zeit um Ursula. Erst war sie eine Freundin, dann seine Freundin, schließlich ließ sie es zu, dass er von Heirat sprach, und dann willigte sie ein. Auch dann noch zögerte sie die Hochzeit hinaus. Aber endlich wurde der Hochzeitstermin festgelegt.
In diesem Zögern verrät sich Ambivalenz. Es war also doch ein Bedenken in ihr.
Die Hochzeit wurde mit Aufwand gefeiert.
Ursula Ruge, nun Ursula Rein, gab eine schöne Braut ab,
und Lothar war stolz darauf. Ursula wirkte selbstbewusst,
und die Mitgift konnte sich sehen lassen. Sie hatte das
Leben noch vor sich.
Die Hochzeit wurde
groß gefeiert. Lothar hatte seine Bundesbrüder
eingeladen. Darin kamen sich seine Eltern, einfache Leute,
ziemlich verloren vor. Der Vater erzählte seinen
Tischnachbarn davon, wie er seine kleine Barkasse durch den
großen Hafen bugsierte, das war nämlich sein
Beruf. Er wollte unter all den akademischen Leuten mit
seinen Geschichten Gespräche vermeiden, die er nicht
verstanden hätte. Die Eltern von Ursula waren
Kaufleute. Der Vater führte das große Wort und
Ursula hing an seinen Lippen.
Für den Abend
der Hochzeit war die Abfahrt des Brautpaares vorgesehen. Die
beiden zogen sich um und setzten sich ins Auto. Begleitet
von den anzüglichen Bemerkungen der Gäste fuhren
sie ab. Ziel war Italien. Erste Station sollte ein
romantisches Schlosshotel sein, gut eine Autostunde
entfernt. Ursula Rein hatte es ausgesucht, vor Monaten
schon. Nach einer halben Stunde Fahrt gab es eine Umleitung,
die übers Land führte. Lothar war aufgeregt. Es
war die Hochzeitsnacht. Ursula nickte immer wieder beim
Fahren ein.
Ich bin so müde. In den letzten Tagen
hatte ich so viel zu tun für die Hochzeit und heute war
es auch so anstrengend, erklärte sie.
Lothar
verfuhr sich. Sie landeten irgendwo im Wald. Eine genaue
Karte hatten sie nicht bei sich. Handys gab es noch nicht,
und Bauern gehen früh zu Bett. Also fuhren sie aufs
Geratewohl in die nächste Kleinstadt, wo es ein Telefon
gab. Die Adresse des Hotels hatte Ursula Gott sei dank bei
sich.
Als sie ankamen, lag alles im Dunkel. Der
Bedienstete, mit dem sie telefoniert hatten, machte ihnen
auf.
Es tut mir leid. Die Heizung funktioniert nicht.
Wir sind mitten in der Renovierung. Möchten Sie eine
Wärmflasche für das Bett? fragte er.
Ursula,
die mit ihrer Stimmung schon in der Nähe des
Gefrierpunktes war, bat um zwei. Zu essen gab es auch nichts
mehr. Das machte ihnen allerdings nichts aus, gegessen
hatten sie ja bestens auf der Hochzeitsfeier. Ob er
Champagner hätte oder wenigstens Sekt oder, wenn auch
das nicht, vielleicht eine Flasche Wein, fragte Lothar.
Sorry, der Weinkeller ist abgeschlossen. Aber Bier habe
ich, warten Sie mal. Er ging in die Küche.
Ja,
ist noch eine Büchse da.
Lothar hatte den ganzen
Tag nicht getrunken, weil er ja noch fahren musste.
”Schlosshotel” hatte seine frisch Angetraute ihm
gesagt. Aber eine Hochzeitsnacht mit Bier?
Lothar
ließ seine Frau als erste ins Bad.
Kein warmes
Wasser!
Er holte Wasser in einem großen Topf,
das auf dem Herd der Küche zum Kochen gebracht worden
war. Fröstelnd huschte Ursula ins Bett, das von den
zwei Wärmflaschen vorgewärmt war. Lothar ging ins
Bad, wusch sich kalt und putzte sich die Zähne. Er
strich sich übers Kinn und beschloss, sich zu rasieren.
Im Pyjama, den ihm seine Frau liebevoll zurecht gelegt
hatte, kam er ins Bett, zu Frau und Wärmflaschen. - Das
Bett quietschte. Ein paar Mal verrutschte die Bettdecke.
Mir ist kalt, sagte Ursula.
Jeder der beiden fühlt sich für die Situation verantwortlich, aber kann sich nicht eingestehen, dass er einen Fehler gemacht hat. Wenn sie das könnten, dann könnten sie auch gemeinsam fluchen oder darüber lachen und müssten nicht denken, dass der andere einem Vorwürfe macht.
Noch haben sich beide bemüht, die Pannen nicht tragisch zu nehmen. Aber das kann nicht lange gut gehen, weil sich die Frustrationen häufen werden. Entweder sie lernen, dass sie öfter Fehler machen; dann können sie dem anderen verzeihen, weil sie selbst auch Nachsicht brauchen. Oder sie werden die eigenen Schuldgefühle auf den anderen projizieren. Dann kommt heraus, dass sie den anderen für ihr Unglück verantwortlich machen, weil sie sich selbst für alles verantwortlich fühlen.
Als Ursula und Lothar Rein am Morgen aufwachten, war es immer noch ziemlich kalt. Aber der schöne Blick nach draußen in die Frühlingslandschaft und die Pracht des Zimmers, die sie am Abend nicht richtig wahrgenommen hatten, entschädigten sie. Das Frühstück war fürstlich, und mit einem Heizöfchen wurde es auch warm. Über die Hochzeitsnacht sprachen sie nicht, weder an diesem Morgen noch später. Tief in ihren Herzen machte sich Enttäuschung breit. Sie verübelten einander die Missgeschicke dieser Nacht. Improvisation, Romantik oder Humor lag ihnen fern. Aber das merkten sie noch nicht. Sie waren erleichtert, als es in den folgenden Flitterwochen annehmlicher wurde. Mit dem Wetter, dem Hotel und den Menschen in Italien waren beide zufrieden.
Sie fragten sich nicht, ob sie mit sich selbst oder dem Partner zufrieden waren. Aber wie hätte auch ihre Antwort aussehen können?
______