2. Buch: Die familiäre Ebene -> 6. Kapitel: Wechselseitige Erwartungen -> 46. Folge: Erste Begegnung
Deutungsebene ausblendenErste Begegnung

Zum ersten Mal trafen sich die beiden auf einem Fest der
Verbindungsstudenten von Lothar. Der hatte zwar schon vor
ein paar Jahren sein Studium erfolgreich abgeschlossen, aber
nun als „alter Herr“, wie er dort hieß,
ging er gern zu den Festlichkeiten. Ursula hatte eine
Freundin, deren Bruder in der gleichen Verbindung war und
über diese Freundin wurde sie auch eingeladen.
Die brauchen Frauen, und eine hübsche wie du, na,
darum reißen die sich doch, meinte sie.
Es
war etwas steif, aber wenigstens waren die jungen
Männer gut angezogen, mit Krawatte, und sie
bemühten sich, ihren Bierkonsum in Grenzen zu halten.
Tanzen konnten die wenigsten gut, leider, dachte Ursula. Es
gab eine Tombola, zugunsten irgendwelcher armer Kinder und
Ursula wurde gebeten aus einem Topf die Lose zu ziehen. Ein
Scherzartikel fiel an Lothar. Es war ein Kissen, das furzte.
Lothar musste sich immer wieder darauf setzen, was ihm
peinlich war. Man sah es ihm an, und das ließ den Saal
erst recht jedes Mal grölen. Ursula sah den
großen Mann, sie sah auch seine Not und lachte ihn so
lieb an, wie sie konnte. Damit war es um Lothar geschehen,
wenn man so etwas von ihm überhaupt sagen konnte.
Vielleicht passt es besser zu sagen, dass er von Ursula
beeindruckt war.
Später, wenn sich Ursula
über Lothar ärgerte, sagte sie schon mal: Du warst
ein Hosenscheißer und bist ein Hosenscheißer.
Aber an so was dachte sie jetzt nicht, sondern zeigte sich
von ihrer besten Seite, wie sie es immer in der
Öffentlichkeit tat.
Ursula bemerkte, dass Lothar gut aussah, wenn er auch etwas verklemmt wirkte. Sie nahm auch wahr, dass er schon ein gewisses autoritäres Benehmen hatte, wie ein Mann in einer gehobenen Stellung. Aber hat ihr Unbewusstes auch registriert, dass er eine Frau suchte, die er hassen konnte? Und Lothar? Ursula gefiel ihm. Wie sie da auf der Bühne stand, mit einer Mischung aus Verlegenheit und hingebungsvoller Freundlichkeit, das fand er toll. Aber spürte er auch, dass sie bereit war, ihn für alles Böse verantwortlich zu machen, weil sie unfähig war, irgendetwas Unvollkommenes bei sich zu ertragen?
Nach der Tombola tanzte er mit ihr und
fragte nach ihrer Telefonnummer, die sie ihm bereitwillig
gab.
Er warb beharrlich und bescheiden um sie,
mit einer Unbeirrbarkeit, die sich des schließlichen
Erfolges sicher war. Sein Werben hatte sie zunächst
nicht wahrgenommen, dann leicht irritiert registriert, weil
es von Anfang an ernst und verbindlich gemeint war.
Natürlich fragte sie sich, ob sie ihn liebte. Und ihre
Antwort war am Anfang ein klares Nein.
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