
Kindheit und psychische Störungen
In den letzten Jahrzehnten hat man begonnen das Erleben
der Säuglinge und Kleinkinder wissenschaftlich zu
erforschen. Dabei kam heraus, was eigentlich nicht
überrascht:
Bereits im Mutterleib kann das
Kind hören und lernt die Stimme der Mutter kennen und
auch die Stimme des Mannes an ihrer Seite, also die des
Vaters. Schon als Neugeborene ist ein aktives Wesen, das
sehr intensiv und genau auf seine Umwelt reagiert. Im ersten
Jahr seines Lebens wächst es so viel wie nie wieder im
Leben, verdoppelt sein Gewicht, kann am Ende die Sprache
verstehen, kann auf zwei Beinen gehen und kennt die
Mitglieder auch einer großen Familie. Das alles findet
statt, während das Gehirn sich noch entwickelt; denn
während alle anderen Organe bis auf die
Geschlechtsorgane bei der Geburt zwar klein, aber voll
ausgebildet sind, braucht das Gehirn noch das erste
Lebensjahr, um seine endgültige Struktur zu finden.
Für dieses enorme körperliche und geistige
Wachstum braucht das Kind einen intensiven Kontakt zu einer
Bezugsperson, was in der Regel die Mutter ist. Es braucht
für sein inneres Erleben den Beistand der Mutter, der
erst nach dem dritten Lebensjahr nicht mehr so dringend
wird. Die Mutter, bzw. andere Bezugspersonen helfen dem
Kind, Ordnung in sein Erleben zu bringen und sich angemessen
auf die Wirklichkeit einzustellen, einfach indem sie, ihren
Gefühlen folgend, sich auf das Kind einstellen. Eine
ausgeglichene Entwicklung des Kindes ist ohne diesen
Beistand nicht möglich. Diese extreme Angewiesenheit
des Kindes auf die Eltern verringert sich nur
allmählich mit den Jahren, so dass erst nach der
Pubertät der Mensch seine Unabhängigkeit erlangen
kann.
Wenn der angemessene Beistand der Eltern
nicht gegeben ist, ist auch keine störungsfreie
Entwicklung möglich. Nehmen wir als Beispiel eine Frau,
die ihre Mutter in der ganz frühen Kindheit verloren
hat und die auch keine gute Ersatzmutter gefunden hat. Diese
Frau hat nur unvollkommen die Erfahrung gemacht, für
einen Menschen im Mittelpunkt zu stehen, mit allem ein
offenes Ohr zu finden und mit all seinen kindlichen
Unvollkommenheiten Begeisterung auszulösen – wie
es kleine Kinder bei den Eltern tun und auch brauchen. Wenn
diese Frau nun ein Kind bekommt, kann sie nicht auf ihre
eigene gute Erfahrung zurück greifen. Sie wird vielmehr
angesichts ihres Kindes die tiefe Trauer spüren, die
sie überfiel, als sie ihre Mutter verlor. Aber sie wird
nicht wissen, woher diese Trauer kommt. Und sie wird sich
wahrscheinlich Vorwürfe machen, dass sie sich nicht
über ihr Kind so freuen kann, wie sie es möchte.
Aber wie soll sie weitergeben, was sie nicht selbst erfahren
hat? Und so wird ihr Kind schließlich die gleiche
Trauer spüren wie die Mutter.
Quelle: Prof. Dr.
med. Frank Matakas, Arzt für Psychiatrie und
Psychotherapie, Psychoanalyse
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