3. Buch: Die soziale Ebene -> 12. Kapitel: Meta -> 86. Folge: Eine verrückte Geschichte
Deutungsebene ausblendenEine verrückte Geschichte

Barbara konnte nicht schlafen. Sie ging hinaus auf den
Flur, wanderte dort ziellos hin und her. Es war ruhig. Im
Schwesternzimmer war gedämpftes Licht. Wahrscheinlich
schlief die Nachtschwester. Sie ging in den Tagesraum, aus
dem sie gedämpfte Stimmen hörte. Es war ein
nackter Raum mit Stühlen, die ohne Ordnung im Raum
standen, auf den Tischen volle Aschenbecher. In einer Ecke
sah sie den Jonas mit Sylvia auf dem Fußboden sitzen.
Barbara, komm doch her, rief Sylvia leise.
Jonas
hatte einen Stapel Zettel in der Hand.
Er liest uns was
vor. Fang noch mal von vorne an!
Jonas
blätterte zurück und las.
Die folgende Geschichte bis zum Ende des Kapitels ist von Sascha Heine, einem meiner Patienten, der mir die Erlaubnis gegeben hat, sie hier gekürzt abzudrucken. Er hat ihr auch die Überschrift „Meta“ gegeben.
Die Geschichte vermittelt gut, wie schizophrene Menschen oft denken In der ersten Zeile z. B. schreibt er, dass er aus seinem „Schönheitsschlaf“ geweckt wurde. In dem Zusammenhang erscheint die Verbindung von Schlaf und Schönheit unpassend. Aber er hat damit etwas angesprochen, was uns andauernd passiert, dass wir nämlich Einfälle haben, die nicht in die Situation zu passen scheinen. Wenn er drei Absätze später schreibt, dass er in seiner „31,4 qm Wohnung“ umher wanderte, hat er ähnliches gemacht. Was tut es in dem Zusammenhang zur Sache, dass seine Wohnung nur 31,4 qm misst? Einerseits nichts, aber andererseits doch. Er muss sich damit ständig abfinden.
Jäh wurde ich aus meinem
Schönheitsschlaf geweckt. Es war ein Dienstag, der 1.
Oktober 2002. 12 Uhr 14 und 5 Sekunden. Für solche
Fälle habe ich immer einen Vorschlaghammer neben meinem
Bett liegen. Etwas müde griff ich nach ihm und schlug
mit aller Kraft auf den Wecker.
„Du
Arschloch“, sagte ich wütend.
Ich legte den
Hammer wieder an seinen Platz zog mich an: Zuerst die Socke
(Die andere lasse ich immer an, um Zeit zu sparen.)
Baumwolle. Rot. Mit gelben Streifen. Dann die Unterhose.
Braun (war vorher mal weiß.). Dann einen Rock.
Grün. Viskose. Und ein T-Shirt. Lila. Acryl. Die
Turnschuhe nicht zu vergessen. Blau.
„Geile
Treter.“
Ich schaute aus dem Fenster, um
abzuschätzen, wie kalt es draußen war. Es sah
sehr ungemütlich grau und windig aus, denn ein
regelrechter Sturm wehte Hunderte von bunten Blättern
hinfort, die plattgedrückt sich hinter der
Fensterscheibe pressten und plötzlich wieder
verschwanden. Ich runzelte die Stirn.
„Petrus
scheint wohl an einer manischen Depression zu
leiden.“
Während ich gerade über das
nachdachte, was ich soeben sagte, dachte ich darüber
nach, welchen Pullover ich anziehen sollte. Nach langem hin
und her überlegen, entschied ich mich für den
Roten.
„Perfekt.“, sagte ich euphorisch und
betrachtete mich von allen Seiten.
Ich fand mich
schön, intelligent und charmant.
„Ich bin
tausendmal besser als ihr, ihr Missgeburten.“
Befriedigt trank ich den Rest des alten Bieres und holte
mir die noch volle Flasche Stroh Rum vom Balkon, diese ich
in einem Zuge leer trank. Danach ließ ich einen
gigantisch lauten Rülpser, einen extrem stinkenden Furz
und suchte meine Schlüssel. Ich fand sie hinter der
Kommode; keine Ahnung wie sie dort hingekommen waren. Etwas
beschwippst verließ ich meine Wohnung. Nachdem die
Tür zuschnappte, fiel mir plötzlich ein, dass ich
meine Medikamente vergessen hatte, wie jedes Mal. Ich suchte
abermals.
„Wo sind die scheiß Dinger
wieder?“
Ich fand das Päckchen Seroquel (ein
Neuroleptikum) auf dem Boden, zwischen Müll und Unrat.
Als ich nach ihr greifen wollte, kam mir eine Ratte von 3
Metern Länge zuvor. Sie sprang auf die Packung und
verbiss sich darin, konnte sie ihr jedoch entreißen.
Während ich meine Medikamente an mich nahm, schimpfte
ich laut:
„Du doofe Sau. Drecksviech, du.“,
und verpasste ihr einen gewaltigen Tritt in den Arsch, so
dass sie im hohen Bogen kreischend durch die Balkontür,
über das Geländer, hinunter in den Hof flog.
„Hinfort mit dir, du Ungetier.“, dichtete
ich.
Genervt steckte ich mir die 2500 Milligramm
Quetiapinfumarat (dasselbe wie Seroquel) in den Mund und
spülte sie mit einem kräftigen Schluck
Jägermeister hinunter.
Gedankenverloren rannte ich in das Erdgeschoss, an der
Kellertür vorbei, durch die Tür zum Hinterhof. Als
ich die Mülltonne öffnete, kam Oskar, der eine
alte Damenbinde auf dem Kopf liegen hatte, zum Vorschein.
Oskar lebt schon seit Jahren in Mülltonnen und war
stets gut gelaunt und freundlich.
„Hallo, mein
Freund, wie geht es dir?“
„Hallo“,
sagte ich geistesabwesend. „Hast du nicht letzte Woche
noch in der Mülltonne nebenan gewohnt?“
„Stimmt. Die alte war zu klein, außerdem
ständig Mieterhöhungen.
Ich machte mich auf den Weg zu Fritten-Heinz, dem
besten und einzigen Restaurant hier in dem Viertel. Auf dem
Weg dorthin wurde mir die unglaubliche Situation, in der ich
mich befand, bewusst und alles kam mir wie ein Alptraum
vor.
„Die Welt, in der du lebst, ist nicht
Wirklichkeit. Du bist eine Projektion unserer
Vorstellungskraft, mein lieber Sascha“, schleusten sie
ihre Gedanken in meinen Neokortex.
„Wieso Sascha?
Ich bin nicht Sascha.“
„Doooch, der bist
du: Du weißt es nur nicht, du Holzkopf.“
Verwirrt betrat ich das Restaurant und Heinz fragte mich,
was er für mich tun könne.
„Wie
immer.“
„Jo!“, sagte Heinz.
Ich
ging zur Kühltruhe, holte mir eine Flasche Reissdorf
Kölsch heraus, öffnete sie mit dem Feuerzeug und
setzte mich an den Tisch in der Nähe des Fernsehers,
der an der Wand montiert war. Während mein Essen
zubereitet wurde, hafteten meine Gedanken an der
Behauptung, alles sei ein Traum.
„Wenn ich in
einer Traumwelt lebe, sind die Dinge dann überhaupt
real?“
„Ich sagte doch eben, dass alles
Nichts ist. Der Tisch ist Nichts, deine Gedanken sind
Nichts. Und vor allem bist du ein Nichts, mein
Freund“, sagte er.
„Die Realität ist
eine Illusion.“
Der Gedanke, dass alles Nichts
sei, fand ich äußerst beunruhigend.
Eigene Gedanken werden zu Wirklichkeit. Das aber macht die Wirklichkeit unsicher. Was ist Phantasie, was Realität?
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